
Eindrücke aus dem Studienalltag

Im Mittelpunkt steht der Prozess
Wie sieht produktorientierter Unterricht aus? Was ist eine selbstlernende Gruppe? Diese Fragen beschäftigen die Teilnehmer des neuen Fortbildungsangebots Inklusionspädagogik.
Die Zusatzqualifizierung richtet sich an tätige Pädagogen sowie an Studierende des Seminars. Die Studieninhalte werden jeweils an Freitagen und in Blockwochen über drei Semester vermittelt. Rebecca Bernstein ist einen Tag lang in das Geschehen eingetaucht.
„Frau Hans, der Tom macht nicht mit, können Sie mal kommen?“ Der Schüler, der hier scheinbar nach seiner Lehrerin ruft, heißt Volker Heimann und ist Dozent für inklusive Waldorfpädagogik. Für die Szene hat er sich spontan einen Studierenden an seine Seite geholt. Wie verhält man sich, wenn Schüler in einer selbstlernenden Gruppe nicht zusammenarbeiten können oder wollen, hatte Cornelia Lux gefragt: „Ich habe das Prinzip der selbstlernenden Gruppe letzte Woche in meiner 3. Klasse ausprobiert. Das größte Problem bei mir in der Klasse war, dass es Konflikte gab, die Schüler haben sich gestritten. Da war dann die Frage, ob ich einschreite.“ Cornelia Lux ist Sonderpädagogin sie arbeitet in sozialen Brennpunkten mit inklusiven Klassen und qualifiziert sich nun zur Inklusionspädagogin.
Der Unterschied liegt im Paradigmenwechsel, also darin, Schüler zu ermächtigen, die Lernprozesse selbst in die Hand zu nehmen.
Volker Heimann reagiert sofort und spielt die Situation durch. Wie hat die Lehrerin im Rollenspiel reagiert? Kann, soll sie eingreifen? Der Austausch in der Gruppe ist lebhaft. Wenn Schüler in selbstlernenden Gruppen ein Produkt herstellten, dürfe der Lehrer diesen Prozess weder forcieren noch behindern, darin sind sich die Teilnehmer einig. Und was bedeutet das nun konkret? „Sie können beschreiben, was sie wahrnehmen“, erklärt Volker Heimann. „Wenn sich zwei streiten, beschreiben Sie also, was da gerade passiert. Dann spiegeln sie – woran liegt es?“
In den Köpfen der Teilnehmer arbeitet es… „Der Punkt hier ist tatsächlich, dass du einmal komplett umdenken musst. Wer bist du als Lehrer, diese Frage muss man sich stellen,“ sagt Beate Kaliski, Klassenlehrerin an der Waldorfschule Potsdam. „Wenn man mit dem, was man seit Jahren macht, zufrieden ist, dann funktioniert das nicht.“ Die Hufnerstraße liegt für die dreifache Mutter nicht gerade um die Ecke. Warum sie jeden Freitag nach Hamburg pendelt? „Wir haben bei uns zwar kaum Schüler mit zugeschriebenem Förderbedarf, aber die Klassen sind dennoch sehr heterogen. Ich hatte immer das Gefühl, nicht alle erreichen zu können. Ich habe dann ein Freijahr genommen, um mich umzusehen. Was machen andere, wie kriegen die das hin.“
Nun sitzen Beate Kaliski und Cornelia Lux mit weiteren 15 Teilnehmern im Halbkreis auf dem Boden. In den vergangenen Wochen haben sie sich mit Begriffen wie Inklusion, Integration, Freiheit, Behinderung und Barrieren auseinandergesetzt, haben Glossare und Lerntafel entworfen, Gebrauchsanleitungen für Produkte geschrieben und Produktforderungen für die selbstlernende Gruppe entwickelt. Die Skizzen, Zeichnungen und Texte, die dabei entstanden sind, haben ihre Dozenten Maud Beckers und Volker Heimann für den heutigen Tag im Foyer der Hufnerstraße ausgestellt. Zeit für einen ersten Rückblick. „Der Unterschied liegt im Paradigmenwechsel, also darin, Schüler zu ermächtigen, die Lernprozesse selbst in die Hand zu nehmen,“ lautet Beate Kaliskis erste Bilanz: „Die Frage, was passiert mit dem was da hergestellt wird, das finde ich total wichtig. Das mitzudenken, wenn ich Unterricht vorbereite, was wirklich Sinn macht, sinnhaft in der Welt sein kann, das finde ich toll.“
Szenenwechsel. Im Seminarraum leitet Volker Heimann zum nächsten Thema über. „Wir haben bislang Produkte für Schüler gemacht, was müsste als Input vom Lehrer kommen? Der Lehrer produziert ja immer, aber wie sieht ein Lehrerprodukt aus?“ Die Gruppe diskutiert. Und hätte gerne ein Beispiel aus der Praxis. Die Blicke sind auf Volker Heimann gerichtet. Der Dozent schmunzelt – und spielt den Ball zurück. „Ich werde Ihnen keine Antwort geben. Sie sollen ja in die Lage versetzt werden, aus sich heraus Produktforderungen zu entwickeln.“ Es folgt die Produktforderung für den heutigen Tag: Eine Whiteboard-Animation, die anhand einer Lerntafel zum Deutschunterricht in der 1.-3. Klasse zeigt, wie Lehrerprodukt und Schülerprodukte miteinander zusammenhängen. Aha…
Die Teilnehmer finden sich zu Kleingruppen zusammen, verteilen sich im Gebäude. Im Seminarraum sitzen nun fünf, ein wenig ratlose, „Animationsbeauftragte“. Dank Google fällt die Begriffsklärung leicht, im nächsten Schritt geht es um die Frage, wer zeichnet. Ira Siemens zögert nur kurz. „Ich kann zwar nicht gut zeichnen, würde es aber gerne probieren“. Vor acht Wochen hätte sie das noch nicht gemacht, erzählt die angehende Klassenlehrerin im ersten Studienjahr, weil sie sich als gelernte Betriebswirtin im künstlerischen Bereich nicht viel zutraue. „Ich habe mich gefragt, wie ich diese Barriere angehe und mir gesagt, ich kann es ja als Chance und Herausforderung sehen.“ Geholfen hat Ira Siemens bei der Überwindung ihrer Barriere, dass die Studierenden auch künstlerisch gefördert werden, sowohl im Tun als auch im Denken. Und genau diese Erfahrung ebnet den Weg vom lehrerzentrierten zum produktorientierten Unterricht. Die fünf Gruppenmitglieder überlegen. Wie könnte ein kreativer Transfer vom Lehrer- zum Schülerprodukt aussehen und wie wollen sie ihn darstellen? Was ist menschenkundlich für Kinder der 1.-3. Klasse angemessen? Worauf will die Gruppe mit dem Lehrerprodukt hinaus? Es wird gezeichnet, verworfen, neu angesetzt.
Am Ende des Seminartages präsentieren die Gruppen ihre Produkte. Und auch hier wird deutlich, dass nicht das Ergebnis, sondern der Prozess der Produkterstellung im Mittelpunkt steht. Die wesentlichen Aspekte inklusiver Waldorfpädagogik lernen die Teilnehmer dabei im sozialen Kontext der Gruppe kennen. „Wir erfahren hier am eigenen Leib, was das bedeutet, wenn so viele verschiedene Vorstellungen und Ideen aufeinandertreffen. Unsere Gruppe ist ja auch sehr heterogen, weil unsere Voraussetzungen, die Lebensalter und die Erfahrungen in der Praxis so verschieden sind“, sagt Beate Kaliski. Wie wichtig es ist, das Setting einer selbstlernenden Gruppe langsam aufzubauen, gehört dabei ebenso zum Lernprozess wie die Erkenntnis, dass der Umgang mit unterschiedlichen Fähigkeiten und Bedürfnissen „ganz viel mit Selbsterfahrung zu tun hat“. Für Cornelia Lux ist das „eine Offenbarung. Ich habe schon einiges ausprobiert, letzte Woche zum Beispiel den produktorientierten Unterricht. Ganz vieles davon ist gelungen. Es geht!“
