
Globalisierung
Über die Bedeutung der neuen Medien im globalen Zeitalter und die neue industrielle Revolution. Eine Standortbestimmung von Dr. Gunter Keller, Geowissenschaftler und Dozent am Seminar für Waldorfpädagogik Hamburg
Im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts formulierten der berühmte österreichische Ökonom Alois Schumpeter und der russische Statistiker Kontradieff die Theorie der langen Wellen. Damit versuchten die Wissenschaftler zu erklären, warum es Zeiten gibt, in denen sich sehr viel verändert und Zeiten in denen sich Entwicklung verlangsamt. Folgt man ihrer Theorie, befinden wir uns heute im ersten Drittel eines neuen Entwicklungsschubs, eines Entwicklungssprungs, der mit den Schlagworten Mikroelektronik, Bio- und Gentechnologie überschrieben werden kann.
Schumpeter und Kontradieff hatten festgestellt, dass die Menschen in einer langen Welle – einem großen Entwicklungsschub von ca. 50 bis 60 Jahren – viele Erfindungen machen und umsetzen. In der Folge verlangsamt sich dieser Prozess, weil einerseits vieles schon erfunden ist und andererseits auch die Innovationskraft der Menschen erlahmt. So wurde beispielsweise die zweite industrielle Revolution von Eisenbahn und Dampfschiff geprägt. Die neuen Fortbewegungsmittel erwiesen sich gegenüber den alten als überlegen. Voraussetzung dafür war die Möglichkeit, Eisen und Stahl in großen Mengen produzieren zu können und Kohle als Energie zur Verfügung zu haben (Höhepunkt der zweiten Welle um 1850). Diese Erfindungen veränderten das Leben der Menschen fundamental. Die Städte waren nun schnell mit dem Zug erreichbar und auch Güter und Waren, die die Menschen zum Leben brauchten, waren leicht in großen Mengen zu transportieren.
In der nächsten Entwicklungswelle wurde das Auto massentauglich und man lernte, die Elektrizität zu nutzen und zu beherrschen. Die Erfindung des Autos war keine isolierte, sie lässt sich nur im Zusammenhang mit vielen anderen Erfindungen denken. Dazu gehört die Möglichkeit, Metall verarbeiten zu können, Gummi herzustellen, einen Motor bauen zu können und vieles mehr. Zu diesen technischen Erfindungen muss es zudem auch eine Energieform geben, die die Erfindungen antreibt. Im Zeitalter der Eisenbahn war es die Kohle, im Automobilzeitalter das Öl. Ohne Öl hätte es das Automobilzeitalter nicht gegeben.
Der Zukunftsforscher Jeremy Rifkin spricht in seinem Buch „Die Null-Grenzkosten-Gesellschaft“ von einer Produktions–Energie–Innovationsmatrix. Diese Matrix treiben vor allem die Menschen an: Nur wenn der Mensch das Bedürfnis nach individueller Mobilität hat, ist das Auto als Fortbewegungsmittel zukunftsfähig. Viele durchaus nützliche Erfindungen haben sich nicht durchgesetzt, weil die Menschen sie nicht annahmen, obwohl sie prinzipiell möglich gewesen wären. Jared Diamond führt in seinem Buch „Reich und Arm“ viele Beispiele hierzu an. Wir kennen alle aus unserem Alltag Menschen, die sich auf neue Dinge einlassen und andere, die sich eher Veränderungen gegenüber verschließen. Dabei ist natürlich wichtig, dass neu nicht unbedingt gut ist. Es kommt immer darauf an, was die Menschen wollen und wie ihr Bewusstsein ist.
Unsere jetzige Zeit lässt sich nach meiner Auffassung nur verstehen, wenn man den Menschen als individuelles Wesen im Blick hat. Wodurch zeichnet sich die neue Industrie – Kommunikation – Energie – und Bewusstseinsmatrix nun aus? Erfindungen wie das Smartphone, Facebook, Twitter, Wikipedia, usw. ermöglichen mittlerweile jedem Einzelnen, Informationen zu erhalten und weiterzugeben. Diese Entwicklung, die auf den individuellen Menschen abzielt, deckt sich mit der Entwicklung der Energieversorgung. Wir werden zunehmend unabhängig von großen Energiekonzernen und können durch Sonne und Wind unsere eigene Energie erzeugen. Die dafür nötigen Erfindungen existieren teilweise schon. Wir können uns mit anderen Menschen zusammenzuschließen und ein eigenes Kraftwerk betreiben oder durch Sonnenkollektoren usw. Energie-Plus-Häuser bauen. Erneuerbare Energieformen wie Wind und Sonne können wir dezentral und individuell nutzen, wir benötigen dazu nicht mehr Mega-Energiekonzerne.
Die neue Produktions-Energie-Innovationsmatrix entspricht also unserem Bedürfnis nach Individualisierung. Wir möchten zunehmend nicht mehr als Kollektiv, sondern als Individuum angesprochen werden, wir wollen bei Entscheidungen, die uns betreffen, mitbestimmen. Nicht nur Informationen werden somit demokratisiert, sondern auch Entscheidungsprozesse. Wer heute erfolgreich sein und bleiben will, muss viele Menschen miteinbeziehen statt top down zu entscheiden. Auch in der Wirtschaft und der Produktion ist diese Entwicklung zu beobachten. Durch die Erfindung des 3-D-Druckers und Lean Produktion sind wir zunehmend in der Lage, nicht zentral Massengüter zu erzeugen, sondern dezentral und individuell.
Wir befinden uns zur Zeit mitten in einem Entwicklungsschub, in dem die Dimensionen Kommunikation, Produktion, Energie und menschliches Bewusstsein zusammen klingen und alle auf das Ziel Individualisierung zusteuern. Smartphone, Facebook, Twitter & Co. sind Teil dieses gewaltigen Transformationsprozesses. Die neue industrielle Revolution ist global und betrifft alle Menschen der Welt. Dieser Prozess ist nicht aufzuhalten und von der Mehrheit der Menschen gewollt. Sie wollen als Ich wahrgenommen werden und als Ich handeln können. Die Energie-Kommunikation-Produktion-Bewusstseinsmatrix wird Ihnen dazu die Gelegenheit geben.
Auf diesem Weg lauern Gefahren und Chancen und wir tun gut daran, uns mit den Neuerungen kritisch auseinander zu setzen. Wir sollten die Stärken und Schwächen dieser Energie-Kommunikations-Produktions-Bewusstseinsmatrix kennen, um menschlich in ihr handeln zu können. Die Waldorfpädagogik hat im 20. Jahrhundert entscheidende Impulse zu einer menschengemäßen Pädagogik gegeben. Wenn wir die Zukunft mitgestalten wollen, wird dies nur möglich sein, wenn wir Teil der gerade im Entstehen begriffenen Energie-Kommunikations-Produktions-Bewusstseinsmatrix sind.
Literatur
Diamond, Jarred (2007): Reich und Arm.
Keller, Gunter (2010): Globalisierungsdiskurs im Unterricht von Waldorfschulen.
Rifkin, Jeremy (2016): Die Null-Grenzkosten-Gesellschaft: Das Internet der Dinge, kollaboratives Gemeingut und der Rückzug des Kapitalismus.
Steiner, Rudolf (1991): Kernpunkte der Sozialen Frage.