
Kinder in der Pandemie


“Schützen heißt nicht, dass wir Kindern nichts zumuten”
Anne Kathrin Hantel ist Leiterin der Ausbildungsgänge Kleinkindpädagogik, Kindergartenpädagogik und Hortpädagogik am Seminar für Waldorfpädagogik Hamburg. Im Interview erklärt sie, was Erwachsene tun können, um Kinder gut durch Krisen zu begleiten und was Kinder brauchen, um Mut und Zuversicht zu entwickeln.
Die Corona-Pandemie stellt Familien vor besondere Herausforderungen. Wie erleben Sie diese Situation?
Im Grunde konfrontiert uns die Pandemie nicht mit etwas Neuem, sondern vergrößert Vorhandenes wie durch ein Brennglas. Die Krise wirft uns auf uns selber zurück. Bin ich ängstlich, werde ich noch ängstlicher, bin ich zuversichtlich, strahle ich diese Zuversicht auch weiterhin aus. Rudolf Steiners Grundsatz ist ja, dass Erziehung vor allem Selbsterziehung ist. Wenn Erwachsene sicher sind, kann die jetzige Situation Kindern auch neue Freiräume geben.
Was brauchen Kinder in dieser Situation?
Rhythmus, Sicherheit und ein Umfeld, in dem sie sich geschützt bewegen können. Kinder brauchen präsente Erwachsene und eine Umgebung, die größtenteils weiß wie es geht. Verunsicherung und Sorgen in einer Krise sind nichts für Kinderohren.
Kann es denn gelingen, Themen unter Erwachsenen zu bewegen ohne die Kinder sofort in alle Nöte und Sorgen einzubeziehen?
Ja, das ist möglich. Am 11. September 2001 war ich als Kindergärtnerin tätig. Ich habe mit den Eltern gemeinsam daran gearbeitet, dass die Ängste nicht unmittelbar durch Bilder und Detailschilderungen auf die Kinder wirken konnten.
Natürlich ist das in dieser Konsequenz in einer Pandemie nicht möglich, weil das Thema omnipräsent ist. Aber Erwachsene können Antworten geben, die zuversichtlich sind. Das Aufsetzen einer Maske lässt sich beispielsweise mit dem Anschnallen im Auto vergleichen. Wir erzählen den Kindern ja auch nicht, wie viele Verkehrstote es täglich gibt.
Sie sprechen in diesem Zusammenhang auch von Resilienzfähigkeit. Was meinen Sie damit genau?
Das Wort kommt ja aus der Qualitätsentwicklung in der Industrie. Man misst einen Gegenstand darauf, wie lange er Druck aushält, bis er bricht. Resilienzfähigkeit in der jetzigen Situation bezieht sich demnach auf die Frage, wie stabil ich bin, wie viel Frustrationstoleranz ich entwickeln kann und wie gut ich mich abgrenzen kann.
Resilienz ist aber auch ein wichtiger Faktor in der Bindungsentwicklung. Seit den Forschungen des britischen Kinderarztes John Bowlby in den 50er Jahren wissen wir, dass Kinder in den ersten drei Lebensjahren Zutrauen zur Welt entwickeln: Begegnung, Pflege und Zuwendung sind die Grundlagen für die künftige Beziehungsgestaltung und für den Zugang zur Welt.
Macht zu viel Fürsorge und Schutz Kinder nicht auch ängstlich?
Schützen heißt nicht, dass wir Kindern nichts zumuten. Das Motto lautet: „So gefährlich wie möglich und so sicher wie nötig.“ Ich bin in einem Schutz der mir zutraut, dass ich mich entwickele. Wenn ein Kind zum ersten Mal erfolgreich alleine auf das Sofa krabbelt und die Eltern nicht gleich in Sorge wegen der Unfallgefahr oder der Unordnung sind,lernt es: Ich kann mich ausprobieren. Ich schaffe etwas! Prima Aussicht hier!
Kinder entwickeln Sicherheit und Selbstvertrauen, wenn sie wissen, dass sich auf Erwachsene verlassen können. Ja ist ja, nein ist nein. Sie sind dabei angewiesen auf die Mimik und Gestik der Erwachsenen und die volle Zuwendung. Deshalb ist es übrigens für sie besonders folgenreich, dass sie uns zurzeit nur eingeschränkt durch die Maske „lesen“ können.
Sehen Sie in der aktuellen Situation auch Chancen oder neue Impulse?
Ich denke, uns ist noch einmal besonders klar geworden, was Präsenz bedeutet und welche Rolle soziale Kontakte spielen. Ich hoffe und wünsche mir, dass wir Einiges davon retten und anders pflegen als zuvor. Und wir uns die Frage, was wesentlich ist, wieder stärker stellen. Ich werde jedenfalls nach der Pandemie wieder herzhaft die Hand reichen.
Neue Freiräume in Zeiten von Kontaktbeschränkungen – das klingt zunächst etwas widersprüchlich. Was können wir konkret dafür tun?
Kinder wollen spielen. Wir Erwachsenen können diesem Bedürfnis nachkommen, indem wir mit einer zweiten Familie eine Pandemiegemeinschaft bilden. In einer solchen Kleinkohorte, in der sich Eltern abwechseln, können sich Kinder in einem Mikrokosmos bewegen.
Kinder leben in der Gegenwart des Erwachsenen und im ätherischen Umraum des Erwachsenen. Natürlich bekommen Kinder mit, dass sich Eltern um die betagten Eltern, um die finanzielle Situation sorgen. Da hilft es, kleine Gemeinschaften zu bilden und sich aufeinander beziehen.
