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Licht in Coronazeiten
Seit ein paar Wochen habe ich aufgehört, die Tagesberichte zu lesen oder zu schauen. Die tägliche Flut aus Zahlen und Berichten über die Pandemie versetzte mich zunehmend in einen ungesunden Zustand, in einen Zustand der Starre.
Ich bin kein Freund von Starre. Starre steht für Stillstand, Unbeweglichkeit und Vergangenheit..
Lieber widme ich mich der Zukunft: Vor welche Fragen und Aufgaben sind wir Menschen gerade gestellt? Wie kann ich mich dafür sensibilisieren, den Hauch zu spüren, der aus der ungewissen Zukunft zu mir spricht?
Ich empfinde in diesen Tagen besonders stark, dass jede*r Einzelne gefragt ist, sich im Strudel der Ereignisse zu positionieren. Diese individuelle Positionierung wird im Miteinander immer wieder geprüft: das sind dynamische Prozesse mit Blick ins Ungewisse. Eine Herausforderung, denn hier wird die Ich-Kraft des Einzelnen angesprochen und gefordert. Die starke Individualisierung im Menschheitsstrom führt heute dazu, dass Jede*r sich einerseits mutig aus der Masse herausstellt, um sich gleichzeitig empathisch auf den Anderen einzustellen.
Die Zukunft, das sind für mich die jungen Menschen, die in unserem Seminar studieren. Noch näher an der Zukunft sind die Kinder und Jugendlichen, die in den Schulen unterrichtet werden wollen.
In der Waldorfpädagogik haben die Lehrer*innen die Aufgabe angenommen, jeden Menschen zur Freiheit zu erziehen. Dafür müssen wir Erziehungskünstler werden, die sich fortwährend schulen, dem Wesen des einzelnen Menschen auf die Spur zu kommen; sich im Unterricht sowohl auf die Individualitäten als auch auf die Gemeinschaft auszurichten.
Als Dozentin in der Lehrerbildung stellt sich mir die Frage, wie ich den Erziehungskünstler im Menschen wecken kann. Was muss ich tun, dass die jungen Lehrer*innen Rudolf Steiners Impulse in der Allgemeinen Menschenkunde selbst durchdringen und in ihrem pädagogischen Handeln schöpferisch umsetzen können?
Und über allem steht für mich die entscheidende Frage: Spüre ich den Hauch von Zukunft, der in den Menschen, die bei uns studieren, lebt? Welche Fähigkeiten und Begabungen kommen mir da entgegen und vor allem, welches Anliegen haben sie an Bildung und Gesellschaft?
Seit Beginn des ersten Lockdowns scheint es, als würden mir diese Antworten nur so zufliegen. Als wären das „Lock“ und das „Down“ zum Türöffner geworden: die Kraft der Stille hat dazu geführt, dass der Mensch zu sich kommt, inne hält und sich für das Wesentliche zu interessieren beginnt – individuell und als Gruppe. Zunehmend erlebe ich viele Studierende, die eine Wandlung im Denken und Handeln vornehmen wollen oder sogar fordern.
Diese Entwicklung schließt genau an die Lernprozesse an, in denen wir uns seit drei Jahren im Rahmen der Inklusionspädagogik befinden. WIR – Dozierende und Studierende – lernen und lehren dabei in einem fortwährenden dynamischen Prozess. Der methodische Ansatz setzt unter anderem auf den Ausstieg aus der lehrerzentrierten Handlungsweise, auf Kooperation und Kollaboration. Er verlangt von uns ein Umdenken und den Mut, neue Wege in der Bildung zu gehen.
Durch das „Lock“ kamen in diesem Zusammenhang gewissermaßen Früchte zum Vorschein: Der methodische Ansatz der Inklusionspädagogik eignete sich hervorragend für die Lernprozesse im Online-Format. Nach kurzen Input-Phasen konnten die Studierenden in Breakoutsessions autonom und produktorientiert arbeiten. Den Möglichkeiten und Fähigkeiten des Einzelnen entsprechend, konnten sie Zeit und Raum ihrer Arbeitsprozesse selbst steuern. Aus festen „Unterrichtszeiten“ wurden selbstgesteuerte Arbeitsräume im digitalen Format.
In den Ergebnissen zeigte sich ein hohes Maß an Kreativität und Tiefgang, so dass die von den Studierenden hergestellten Produkte (Videos, Tutorials, Szenenspiel als Audiobeiträge, Whiteboard Animationen usw.) dazu dienten, einen weiteren, von Ihnen bestimmten Lernschritt, zu gehen. Auf diese Weise waren ALLE in die Lern- und Lehrprozesse inkludiert.
Auch wenn die Beteiligten sich einig waren, dass das Online-Format die wahre Begegnung zwischen Menschen nicht ersetzen kann, durften wir diese Lern- und Lehrprozesse als inspirierend und vertiefend erleben. Einige behaupteten im Rückblick über das Online-Format, dass sie sich im Sozialen intensiver kennengelernt haben: „… in der Live Situation hätte ich mich wahrscheinlich mit meinen „Freunden“ zusammengetan.“
Die Studierenden haben mir besonders in Coronazeiten geholfen, den Hauch aus der Zukunft zu spüren. Sie haben mich stark motiviert, weiterhin das Vertrauen in den Menschen der jüngeren Generation zu setzen. Es zeigt sich die Ich- Kraft des Einzelnen und die Tatkraft der Gruppe: Licht in Coronazeiten.
Maud Beckers,
Dozentin Inklusionspädagogik
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