
Theaterprojekt 2017



Wenn alles eine Rolle spielt
Theater und Waldorfpädagogik bilden von jeher eine Einheit. Die Klassenspiele der 8. und 12. Klasse stehen an Schnittpunkten im Leben der Heranwachsenden. Dass Theater in seiner Synthese von Kunst, Pädagogik und Therapie auch für Studierende ein starkes Stück ist , hat Jenser Kaufmann erfahren und dem Theater kurzerhand einen Brief geschrieben.
Liebes Theater,
schon zu Beginn meiner Ausbildung wurde mir klar, dass wir es so oder so miteinander zu tun bekommen würden. Bisher konnte ich mich immer erfolgreich vor dir drücken. Vielleicht würde es genügen, eher etwas Technisches beizusteuern und überhaupt, wozu denn unbedingt eine Theaterepoche?
Naja, es gab erst einmal Wichtigeres und ehrlich gesagt habe ich dich eine Weile erfolgreich verdrängt. Ganz beiläufig erfuhr ich, dass ein Jeder eine Rolle zu spielen haben werde. In dem Moment merkte ich zum ersten Mal, dass in mir schon etwas passiert war.
Statt meiner bisher typischen Hemmungen oder gar Ängste vor Auftritten dieser Art, spürte ich eine tiefe Ruhe und absolutes Vertrauen in meinen mir inzwischen liebgewordenen Kurs und unsere Leitung. In der Folgezeit wurde ich eher gespannter und angenehm aufgeregt, was die Auswahl des Stücks und die Rollenverteilung anging.
Dann ist es endlich soweit: Jean Anouilhs „Jeanne oder die Lerche” wird uns in den kommenden Wochen beschäftigen. Gemeinsam lesen wir das Stück und bilden verschiedene Arbeitsgruppen für die bevorstehende Zeit mit dir. Während einige von uns Hand in Hand die Rollenverteilung ausarbeiten, finde ich mich in der Bühnenbaugruppe wieder. Das große, leerstehende Nachbargebäude steht zur Verfügung und schnell sind wir uns einig, dich hier stattfinden zu lassen. Jeder beginnt also, sich seine Gedanken zu machen, sich für oder gegen die von der Gruppe angedachte Rolle zu entscheiden. Ich soll zwei sehr unterschiedliche Rollen in deinem Stück übernehmen. Da mein Vertrauen in diejenigen, die mir die Rolle zugedacht haben, groß ist, erkläre ich mich sofort einverstanden.
Wir kümmern uns in den folgenden Wochen um nichts anderes als um dich. Immer wieder werden Kostüme anprobiert, Requisite und Material gesichtet und herangeschafft. Unsere größte Aufmerksamkeit aber gilt natürlich der Sprachgestaltung und der täglichen Probezeit für dich In keiner Situation fühle ich mich unwohl oder gar gehemmt. Ganz im Gegenteil. Ich kann mich ständig ausprobieren und weil ich spüre, dass es nicht schlimm ist, etwas falsch zu machen, geht es mir von Tag zu Tag besser. Ich komme während der Proben erstmals bewusst ins bildhafte Erzählen!
Wenn wir Szenen ändern, fällt es mir manchmal schwer, unmittelbar den Sinn bzw. die Verbesserung nachzuvollziehen. Am nächsten Tag erschließt es sich von ganz alleine. Ich erkenne, wie das Prinzip des Dreischritts auch bei uns angewendet wird – und funktioniert. Deine Szenen fügen sich ineinander, auch weil wir immer mehr ins Miteinander kommen. Jeder spürt dich von Tag zu Tag intensiver. Alle bringen die so wichtige Flexibilität mit, und jedem wird es möglich, voll und ganz einzutauchen. Und dabei niemals aus den Augen zu verlieren, welche anderen Wichtigkeiten das Leben noch hat. Immer schön im Gleichgewicht bleiben!
Auch ein paar Hürden, die unerwartet auftauchen, können dich nicht mehr zum Scheitern bringen. Bei jeder Probe und jeder Aufführung bringst du uns Veränderungen und neue Situationen, die uns die Gelegenheit bieten, zu lernen, spontan, flexibel und ruhig zu reagieren. Jeden Tag wird mir bewusster, wie wichtig du mir für meinen Wunsch als Lehrer zu arbeiten, geworden bist. Ich fühle mich hinein in die verschiedenen Stimmungen, die du zu bieten hast. Durch dich hat die Gruppe rücksichtsvolles, vielleicht sogar liebevolles Miteinander entwickelt.
Oft denken und sprechen wir bis heute von dir. Ich habe mich völlig neu kennengelernt und fühlte mich sogar wohl auf deiner Bühne. Ich habe mich ganz klar durch dich weiterentwickelt.
Liebes Theater, ich werde dich nie vergessen und bin dir zutiefst dankbar, für das was du in der Zeit mit uns gemacht hast.
Dein J.
